Dr. Ed. Gnesa: Ehemaliger Leiter des Bundesamts für Migration

Integration funktioniert heute besser als früher.

Ein Gespräch mit Dr. Eduard Gnesa*, Beirat der Association Equilibre und ehemaliger Leiter des Bundesamts für Migration über die Veränderungen bei der Integration von Flüchtlingen in der Schweiz.

Sie befassen sich seit über 30 Jahren mit dem Thema Migration. Sie waren Direktor des Bundesamtes für Migration, dann Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit und Sie sind heute immer noch europaweit ein gefragter Experte in Sachen Migration. Was hat sich in den Jahren Ihrer Tätigkeit verändert? Was ist heute anders im Vergleich zu Ihren Anfängen?

Verändert hat sich die Wahrnehmung von Migrantinnen und Migranten, insbesondere von Flüchtlingen. Das Schweizer Volk hat mehrmals grosse Solidarität bewiesen, gerade zum Zeitpunkt der Balkankriege, als die Schweiz etwa 200'000 Flüchtlinge aus den Balkanstaaten aufgenommen hat. Ich kann mich gut erinnern, als der erste Flieger in Kloten landete. In diesem Flieger waren Bauernfrauen und -männer, Ärzte, Professoren, Mechaniker, die alle in grosser Not waren. Sie kamen in die Schweiz und das Schweizer Volk hat sie aufgenommen. Es war klar: sie flohen vor einem schrecklichen Krieg, viele waren nicht politisch verfolgt. Es ist dann ganz gut gelungen, sie zu integrieren, auch nach anfänglichen Schwierigkeiten. Ein bisschen skeptischer wurde die Schweizer Bevölkerung, als die Flüchtlinge nicht mehr nur aus einem Gebiet kamen. Da hat man zu wenig gut kommuniziert, dass weltweit eine Veränderung der Migration und der Mobilität stattfindet. Man sieht das an den Asylzahlen in ganz Europa. Nach den Balkankriegen sind die Zahlen zurückgegangen, es gab rund um Europa keine Konflikte mehr. Dann kam der arabische Frühling 2010/2011 und die Asylgesuche stiegen erneut, vor allem 2015/16, u.a. wegen dem Syrienkonflikt, der Klimamigration, bewaffneten Konflikten und Unruhen im mittleren Osten. Das führt zur berechtigten Frage: welchen Stellenwert geben wir der Integration?

So hat sich auch das Verständnis der Schweiz für das Thema der Integration verändert. Für anerkannte Flüchtlingen zahlt der Bund 5 Jahre lang Fürsorge, bei den vorläufig Aufgenommenen 7 Jahre. Das Engagement der Kantone zur Integration der Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt hielt sich in Grenzen, was sich aber für die Folgejahre bei Nichtintegration rächt. Vor zwei Jahren ist mit der Integrationsagenda des Bundesrates und der Kantone ein entscheidender Wandel eingeläutet worden. Die Integrationspauschale wurde von 6'000.- auf 18'000.- erhöht, es wurde eine Integrationsvorlehre eingeführt und einige weitere Instrumente. Gerade letzte Woche hat der Bundesrat wieder gut entschieden, indem er Einarbeitungszuschüsse genehmigt hat. Wenn ein Hotelier in Zermatt gerne einen Flüchtling einstellen möchte, aber nicht genau weiss, was er erwarten kann, so haben die Kantone und Gemeinden jetzt ein Instrument, den Hotelier in den ersten Monaten zu unterstützen, indem sie einen Teil des Lohns übernehmen. Meistens bewähren sich die Leute. Dieses gesamte Integrationspaket ist sehr sinnvoll. Und was ist überhaupt die Alternative? Dass jemand 50 Jahre im Sozialfürsorgesystem bleibt? Das bringt nichts und man schürt damit die Fremdenfeindlichkeit. Früher wurden die anerkannten Flüchtlinge vom RAV nicht vermittelt, jetzt hat der Bundesrat entschieden, dass sie genauso vermittelbar sind wie alle anderen Arbeitsuchenden. Das ist ein entscheidener Unterschied zu früher.

Dann würden sie sagen, die Integration funktioniert heute besser als früher?

Ja, sie funktioniert besser, es besteht ein grösseres Verständnis dafür. Heute haben wir zum Beispiel Job Coaches, die die Unternehmen bei der Integration ihrer eingestellten Flüchtlinge unterstützen. Ich erzähle ihnen ein Beispiel: ein CEO eines grossen Unternehmens hat mir berichtet, dass im Sommer ein Vorarbeiter zu ihm kam und ihm erzählte, dass sein bester Mitarbeiter ein Afghane sei. Aber wenn Ramadan ist und es im Sommer 37 Grad heiss ist auf der Baustelle, dann trinke er tagelang nichts, da es im Koran so stehe. Der Vorarbeiter wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Dann machten sie sich auf die Suche nach einem Imam, wurden fündig und der Imam konnte dem Afghane mitteilen, dass er bei schweren Arbeiten trotzdem trinken darf. So konnte das Problem gelöst werden. Auch für solche Beispiele sind Job Coaches sinnvoll, die die Unternehmen bei den Fragen, die rund um die Beschäftigung von Flüchtlingen auftauchen, unterstützen. Es gibt heute viel mehr solche Instrumente wie früher.

Sehen Sie die Integration der Flüchtlinge in Schweizer Unternehmen als grösste Herausforderung?

Genau. Und da sind wir besser geworden, es war eine richtige Erfolgsgeschichte in den letzten drei Jahren. Aber der Bund musste Geld in die Hand nehmen, auch um die Kantone zu befähigen, ihre guten Massnahmen noch zu verstärken. Viele Kantone haben auch ihre Strukturen angepasst, sodass sich nicht mehr mehrere Amtsstellen mit der Arbeitsintegration befassen. Wenn ein Arbeitgeber kurzfristig jemanden sucht für ein Jahr, dann hat er nicht die Kapazität, mehrere Amtsstellen zu fragen. Dann will er eine Ansprechperson. Die Kantone sind auf gutem Weg.

In diesem Fall gibt der Bund heutzutage mehr Geld aus für die Integration in den Arbeitsmarkt. Lohnt sich das denn?

Das lohnt sich ganz gewaltig. Ein Beispiel: was ich verheerend finde, ist, dass die Medien nach wie vor verbreiten, dass über 80% der Flüchtlinge von der Fürsorge abhängig sind. Das stimmt und stimmt nicht. Auch jemand, der nur 20% von der Fürsorge unterstützt wird, weil sein Lohn nicht reicht, taucht in dieser Statistik auf. Dann denkt die Schweizer Bevölkerung: die arbeiten ja nicht. Das ist falsch. Der Minimallohn im Gastgewerbe ist ca 3'400.- was nicht reicht, um eine vierköpfige Familie durchzubringen, was bedingt, dass die Sozialfürsorge für die Differenz einspringt. Darum sind Investitionen in die Bildung und Arbeitsintegration von Flüchtlingen so wichtig.

Die Association Equilibre hat sich von Anfang an darauf fokussiert, für ältere Flüchtlinge, also älter als 25 Jahre, ein Angebot zu gestalten. Sie haben sie dabei unterstützt. Wieso gibt es in diesem Bereich ein Manko?

Das Manko gibt es, weil viele Integrationsmassnahmen von anerkannten und vorläufig Aufgenommenen auf Jugendliche abzielen. Sie gehen in die Schweizer Schule, dann kommen unter anderem die Integrationsvorlehre, die Lehrstellen, die neuen Einarbeitungszuschüsse. Davon profitieren vor allem Jugendliche, was auch richtig ist. Aber es ist wichtig, dass auch Angebote für ältere Flüchtlinge entstehen. Das hat dann Beispielcharakter für andere Firmen. Ein Teil von den älteren Flüchtlingen kommen mit dem Familiennachzug, z.Bsp. wenn Frau und Kinder ihrem Mann in die Schweiz folgen. Auch da braucht es Integrationsmassnahmen für die Frau, denn in den allermeisten Fällen bleibt die Familie von anerkannten Flüchtlingen hier.

Das aktuelle Beispiel der JLT Company/KoKoTé ist Ali Ghorbani, der gerade nach nur wenigen Jahren in der Schweiz die beste LAP seiner Schweizer Klasse absolviert hat. Wie beurteilen Sie diesen Erfolg?

Das ist grossartig. Das ist ein sehr gutes Beispiel, das zeigt, wie fähig die Flüchtlinge sind. Ich hatte das Glück Ali zu treffen bei meinem letzten Besuch bei KoKoTé und es fiel mir sofort auf, dass er ein sehr lebendiger und intelligenter junger Mensch ist, der vorwärts kommen möchte. Und es gibt noch viel mehr «Alis». Ich kenne ein von einem jungen Berner lanciertes Projekt, das nennt sich Powercoders. Das Projekt bildet Flüchtlinge aus im Bereich Informatik und Programmierung und vermittelt sie nach einem Jahr an Schweizer Unternehmen. Insbesondere Syrer und Afghanen nehmen das Angebot wahr, das Projekt ist erfolgreich. Die beiden Projekte sind ähnlich, da sich auch Powercoders zum Teil auf ältere Flüchtlinge mit Vorkenntnissen konzentriert. Ein direkter Einstieg in ein Schweizer Unternehmen wäre für die Flüchtlinge sehr schwierig, indem man sie so unterstützt, gelingt es. Genau solche Projekte wie KoKoTé und Powercoders braucht es.

Der Erfolg von Ali hat auch stark mit dem Engagement des Teams zu tun. Er wurde sehr eng begleitet und KoKoTé hat ihm geholfen, eine eigene Wohnung zu finden. Was sind für Sie weitere Erfolgsfaktoren einer erfolgreichen Integration in den Arbeitsmarkt?

Es braucht unbedingt – zumindest zu Beginn – eine enge Begleitung. Insbesondere bei Personen über 25 Jahren. Viele von ihnen bekommen nur temporäre Stellen. Da brauchen sie eine gute Beratung. Es gibt Stimmen, meistens unter den Flüchtlingen selbst, die verbreiten, dass es sich nicht lohnt zu arbeiten, da man mit der Sozialhilfe gut durchkommt. Das ist verheerend. Da braucht es eine Begleitung, die ihnen erklärt, was dies bedeutet und ihnen aufzeigen kann, dass wenn sie sich am Arbeitsplatz integrieren, die Chance zum Beispiel auf eine eigene Wohnung viel grösser ist und die Arbeitschancen bei weiteren Bewerbungen viel höher sind als wenn sie fürsorgeabhängig sind. Graubünden macht das gut. Sie bieten den Flüchtlingen Unterstützung bei der Wohnungssuche, wenn sie sich in den Arbeitsmarkt integrieren können. Es braucht einen Anreiz und auch eine Belohnung, wenn die Flüchtlinge sich wirklich anstrengen.

Seit die Integration einen grösseren Stellenwert geniesst, hat man übrigens in allen Kantonen und zum Teil auch in den Städten Integrationsdelegierte ernannt. Sie sind mitverantwortlich und unterstützen bei der Arbeits- und Wohnungssuche.

Integration durch Berufsbildung bei der JLT Company/KoKoTé.

Integration durch Berufsbildung bei der JLT Company/KoKoTé.

Die JLT Company/KoKoTé will ein Vorbild sein für andere Unternehmen, sich für die Integration von Flüchtlingen einzusetzen. Wie sollen Unternehmen vorgehen, wenn sie sich engagieren möchten?

Es gibt verschiedene Ansätze. Einige Unternehmen bestimmen eine Person, die sich um die Integration von Flüchtlingen in das Unternehmen kümmert. Sie setzen ganz stark auf Sprache, mit eigenen Sprachkursen. Sie stellen mehrere Flüchtlinge ein für eine 6-monatige Anlehre, und danach wird ein Teil fest angestellt oder an andere Schweizer Unternehmen weitervermittelt mit einem Arbeitszeugnis. Für andere kleinere Unternehmen ist die Sprache auch wichtig, aber die handwerkliche Fachkenntnis noch fast wichtiger. Und dann ist für die Unternehmen ganz zentral: sie wollen eine einzige Anlaufstelle beim Kanton, die sie kompetent berät und die Anstellung schnell und unkompliziert macht. Das hat sich in den letzten Jahren verbessert, viele Kantone haben diesen Prozess vereinfacht. In verschiedenen Branchen wie Baugewerbe, Gastronomie und Hotellerie oder Reinigungsgewerbe werden heute mehr Flüchtlinge eingesetzt als noch vor wenigen Jahren. Ich hoffe sehr, dass die Corona-Krise diese positive Entwicklung nicht rückgängig macht.

Sie sind eigentlich pensioniert und könnten das ruhige Leben geniessen. Was treibt Sie an, sich weiter zu engagieren?

Ich war in vielen Ländern unterwegs und habe sehr viele Menschen gesehen, denen es miserabel geht. Wenn man helfen kann, dann soll man das tun, nicht nur vor Ort sondern auch im eigenen Land. Das Thema Migration lässt einen nicht so rasch los. Das geht auch anderen Kollegen so: Peter Arbenz, mein Vor-Vorgänger (ab 1990 Leiter des Bundesamts für Flüchtlinge), Jean-Daniel Gerber, mein Vorgänger (ab 1997 Leiter des Bundesamts für Flüchtlinge und von 2004–2011 Leiter des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO), und ich betreiben die Stiftung «Reintegration im Herkunftsland», die die Reintegration von Menschen fördert, die ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz leben und freiwillig in ihre Herkunftsländer zurückkehren wollen. Weiter berate ich Regierungen und Organisationen, die sich mit Migration befassen. Und zwischendrin bin ich auf der Alp am Wandern und erhole mich dort sehr gut.

Vielen Dank für Ihr Engagement für die Association Equilibre und dieses Gespräch. Wir wünschen Ihnen weiterhin alles Gute!

Eduard Gnesa (*1952) berät in politischen und rechtlichen Fragen sowie in Fragestellungen der internationalen Zusammenarbeit, mit Fokus auf Migrationspolitik. Er blickt auf eine eindrucksvolle berufliche Laufbahn in diversen leitenden Funktionen in der Bundesverwaltung zurück, u.a. im Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) als Direktor Bundesamt für Migration sowie im Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) als Sonderbotschafter für internationale Migrationszusammenarbeit.

Seit seiner ordentlichen Pensionierung 2017 arbeitet er unter anderem als Beauftragter für Flüchtlinge und Wirtschaft des Staatssekretariats für Migration, ist Lehrbeauftragter für schweizerische und internationale Migrationspolitik an der Hochschule St. Gallen und Mitglied in diversen internationalen Fachgremien zu Migration und Flüchtlingswesen. Überdies amtet er als Referent und als Experte in mehreren Stiftungen.

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